Man kann nie wirklich zurückkehren. Das lernt man schnell, wenn man einmal nach längerer Abwesenheit den Ort der eigenen Kindheit und Jugend aufsucht: Ständig stehen alte Erinnerungen im Weg herum, und doch ist es stets ein bisschen, manchmal gar völlig anders als früher. Man kann ja, wie das Sprichwort sagt, nie zweimal im gleichen Fluss baden.
Das gilt auch für die englische Provinz, selbst wenn die Welt dort immer noch aussieht wie seinerzeit in den Miss Marple-Filmen: die gleichen Steinhäuser an winzigen Straßen, die gleiche soziale Kontrolle durch die bigotte Nachbarschaft, die gleichen Kühe auf den Weiden dazwischen. Und dahinter lauert natürlich das Verbrechen. In Großbritannien macht man sich auf die dem Land eigene, elegante Weise selbstironisch über dieses Bild vom englischen Hinterland lustig, etwa durch die Krimiserie Inspektor Barnaby; aber es ist eben doch entlarvend, dass man in diesem Setting eigentlich immer auf einen Mord wartet.
Stephen Frears’ neuer Film Tamara Drewe erfüllt solche Erwartungen insofern, als am Schluss eine Leiche neben dem Wassertrog der Kühe liegt und schon früh eine Küche auftaucht, in der prominent eine große Auswahl scharfer Messer präsentiert und benutzt wird. Das eine hat aber womöglich gar nichts mit dem anderen zu tun, und wenn es hier ein „Corpus delicti“ gibt, ein Instrument der Tat, dann ist es wohl die Nase der Titelfigur.
Tamara Drewe (Gemma Arterton) hat früher in dem kleinen Kaff Ewedewn gelebt, hat sich aber schon seit längerem nicht mehr blicken lassen, sondern in London Karriere als Journalistin und Kolumnistin gemacht (ein bisschen Sex and the City in der „countryside“ steckt also auch in diesem Film). Nun hat sie nicht nur viel Erfolg und eine neue Nase (die alte ward einst in Ewedewn viel gehänselt), sondern kommt ins Dorf ihrer Jugend zurück, um das Haus, in dem zuletzt ihre Mutter noch lebte, für den Verkauf herrichten zu lassen.
Dabei trifft sie unweigerlich mit Andy Cobb (Luke Evans) zusammen, dessen Familie das Haus früher gehörte. Gleich die ersten Szenen des Films stellen Andy beim Einschlagen eines Holzpflockes mit nacktem Oberkörper vor, und natürlich ist er der offensichtliche „love interest“ für Tamara – man war sich schon in Jugendtagen einmal näher gekommen. Aber erst einmal schleppt die Journalistin nach einem Interview den Rockstar Ben Sergeant (Dominic Cooper) in ihr altes neues Heim, der nicht nur wegen seines gelben Porsches für einiges Aufsehen sorgt, sondern vor allem die beiden Teenager Jody und Casey (Jessica Barden, Charlotte Christie) in Hormonschübe treibt.
Frears entwickelt in seinem Film, basierend auf einer Graphic Novel von Posy Simmonds, eine ganze Reihe weiterer Handlungsstränge; und auch wenn Tamara im Zentrum der erotischen und dramatischen Verwicklungen steht, die sich in Ewedewn abspielen, so hängt das Herz des Regisseurs doch vor allem an Beth (Tamsin Greig), die zusammen mit ihrem Mann, dem erfolgreichen Krimiautor Nicholas Hardiment (Roger Allam), eine kleine Pension für Schriftsteller und Autoren führt.
Simmonds‘ Buch ist seinerseits eine Adaption und Modernisierung des Romans Far From The Madding Crowd von Thomas Hardy; die Autorin nimmt die Figuren und Konstellationen von Hardys Werk wieder auf und beschreibt die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven, insbesondere auch mittels Tamaras Kolumnen und anderen Textschnipseln aus journalistischen und literarischen Arbeiten.
Auf dieses letzte Element verzichtet Frears fürs Medium Film, die verschiedenen Blicke auf die Handlung behält er allerdings bei. Wie Simmonds in der Graphic Novel nutzt er die so entstehenden Möglichkeiten, die Handlung aus dem Film heraus zu kommentieren und mit weiteren Ebenen etwa durch literarische und filmische Verweise zu unterfüttern. So ist einer der Gäste von Beth der Literaturwissenschaftler Glen McCreavy (Bill Camp), der an einem Buch zu Thomas Hardy schreibt; im Gespräch mit Beth entwickelt sich sein Text immer weniger zu einem Werk über Literatur als über Hardys Leben – ein Mann sei das gewesen, erzählt Glen, der sich immer junge Frauen suchte, ganz unabhängig von seinem eigenen Alter.
Der Zuschauer versteht sofort, dass damit auch Nicholas gemeint ist, der sich von den Damen seiner Workshops anhimmeln lässt und sich bescheidener gibt, als er ist; der aber vor allem von den jungen Frauen nicht lassen kann und will. Und zugleich wird spürbar, wie sehr Glen an Hardy wie an, Namensähnlichkeit est omen, Hardiment deren lustvolle Weltzugewandtheit bewundert, die ihm selbst fehlt.
Er kann nicht einmal entspannt durch die bukolisch anmutenden grünen Landschaften des Films stapfen, weil er zuviel Angst vor den entspannt grasenden Rindern hat; Frears freilich nutzt die Natur nicht nur für sonnenbeschienene Bilder Englands, wie sie einem Tourismuskatalog würdig wären, sondern spielt auch mit dem freien Blick, der nicht nur ins Grüne, sondern immer auch aufs nächste Haus gerichtet werden kann, dem aber auch Bäume und Hügel im Wege stehen – Natur, Begehren, sexuelle Versteckspiele, das sammelt sich nicht nur in der Story, sondern auch in den Bildern. Und wenn Tamara in ihrer wahrscheinlich erotischsten Szene über einen Zaun klettert, dann lässt sie nicht nur das Vorurteil zurück, dass man von Briten sexuell nur Unterkühlung erwarten könne, sie lädt auch bildhaft zur Grenzüberschreitung ein.
Gemma Arterton ist für diese Figur eine großartige Besetzung. Mit ihrer frisch in Hollywood noch gewachsenen „star persona“ führt sie weitere Ebenen in die Verweissysteme von Frears‘ Film ein, vor allem weil sie vor einigen Jahren die Hauptrolle in einer Verfilmung von Hardys Tess Of The D’Urbervilles gab (wobei man sich, zugegeben, womöglich schwer tun würde, eine britische Filmschauspielerin von Rang zu finden, die noch nie in einer Hardy-Adaption zu sehen war. Oder Austen, Shakespeare oder dergleichen); ihre Nasenprothese (in den Rückblicken auf Tamaras und Andys Jugend) gemahnt zugleich sehr und ironisch an Nicole Kidmans oscarreifen Zinken als Virginia Woolf (Schriftstellerin!) seinerzeit in The Hours. Arterton gibt ihrer Tamara – jener mit der neuen Nase – zudem eine Aura von Verführung und erotischem Versprechen, unterfüttert dies aber mit dem gehörigen Schuss Naivität und Blauäugigkeit, die ihrer Figur in Tamara Drewe zwingend zu eigen sein muss.
Denn so sehr sie auch im Zentrum der Geschichte steht und soziale wie erotische Gefüge in Bewegung bringt, die entscheidenden Handlungsschritte werden von anderen gemacht. Jody und Casey, die noch anfangs das Geschehen allenfalls wie ein griechischer Chor – oder vielleicht genauer: wie die zwei griesgrämigen Senioren aus der „Muppet Show“ – gehässig und frustriert kommentieren, setzen am Ende jene Ereignisse in Gang, die die Figuren des Films in neue Konstellationen und neues, vielleicht aber auch altes Glück und Unglück hinein treiben. Wer sagt schließlich, dass man in seinem alten Zuhause nicht auch ganz neu ankommen kann?